Die
Jungle World ist ein unkonventionelles, linkes Blättchen aus Berlin (Wochenzeitung), bei der auch Deniz Yücel angefangen hatte, und deren Mitherausgeber er immer noch ist. Und die feiern 20jähriges. Und stellen natürlich auch fest, daß sie nicht vollzählig sind.
Er hat aber auch – das darf man schreiben, weil dies zum Glück kein Nachruf ist [...] – gelegentlich ein wenig danebengelegen. Als ein gewisser Recep Tayyip Erdoğan mit seiner neuen Partei AKP im Jahr 2002 erstmals die Parlamentswahl gewann, kommentierte Deniz milde: »Ein Grund zur Panik besteht nicht.« Eine ehemalige Ressortkollegin von ihm erinnert sich, dass es auch in der folgenden Zeit häufig Diskussionen gab, weil Deniz Erdoğan sozusagen eine Chance einräumte. Noch 2004 nannte er die AKP »Softcore-Islamisten«. Aber er war nicht der einzige, fast alle Türkei-Autoren hofften damals auf eine »Demokratisierung des politischen Islam« durch Erdoğan. Kaum jemand ahnte, dass dieser Typ 15 Jahre später eine lupenreine Diktatur errichten würde.
Und man schwelgt in Erinnerungen:
Im Jahr darauf holte er die Jungle World nach Istanbul. Deniz hatte alles organisiert, die Heftplanung, die Reise, die Unterkunft. Er hatte plötzlich überall vor Ort Cousins und Vettern und Tanten und Onkel. Alles sollte perfekt sein. Tante Saadet und Onkel Ayet holten uns mit einem Dolmus-Bus vom Flughafen ab und brachten uns in unsere Unterkunft im Herzen Istanbuls. Deniz platzierte uns auf die Gästelisten der besten Nachtclubs, brachte uns zu Demonstrationen und zum »Rock’n’Coke-Festival«, knüpfte Kontakte am laufenden Band, es war alles spannend, ungeheuer intensiv – und, tja, am Ende versank die Produktion im totalen Chaos, auch weil sich Deniz völlig übernommen hatte und alles letztlich an seiner Person hing (die Kollegen von Taz und Welt können sich vorstellen, was das bedeutet), dazu kamen technische Probleme, Zeitdruck, es gab Streit, es gab Nervenzusammenbrüche, aber Deniz sagte immer: Leute, bleibt locker, so ist das: alla turca. Die Druckerei in Frankfurt arbeitete allerdings alla tedesca und es wurde alles furchtbar knapp am Ende – aber: Es ist trotzdem eine sehr, sehr gute Ausgabe geworden damals. Vielleicht sogar eine der besten.
https://jungle.world/artikel/2017/23/wir-sind-nicht-vollzaehlig