Vielleicht ist es zu viel, von
Palästinensern im Gazastreifen oder im Westjordanland, die unter der Besatzung aufgewachsen sind, Empathie für Israelis zu erwarten – so wie es nach dem Massaker umgekehrt nur wenigen Israelis möglich sein wird, mit der Zivilbevölkerung in Gaza zu fühlen. Gut versorgt im sicheren Deutschland, vermag ich nicht zu sagen, wie ich selbst reagieren würde, wenn mein eigenes Kind ermordet oder mein Haus zerstört worden wäre. Aber gut versorgt im sicheren Deutschland, sollte jedem das Mitgefühl für die Opfer gleich welcher Seite möglich sein. Und was die Kontextualisierung betrifft, die Slavoj Žižek so wortreich eingefordert hat: Ja, sie ist wichtig, sie ist immer wichtig, in der Beurteilung jedes Verbrechens. Nicht einmal das radikal Böse ist ohne Kontext. Aber nach einer solchen Grausamkeit wie am 7. Oktober, die im Nahostkonflikt alles bisher Vorstellbare übersteigt, wäre zunächst ein Innehalten angebracht gewesen, Gesten des Beileids und der Beschämung, eine Umarmung. Punkt. Und an keinem Ort so sehr wie in Deutschland wäre nicht nur in der Politik, nicht nur im Fernsehen, sondern im Alltag die Solidarität mit den hier lebenden Juden nötig gewesen, die sich nicht mehr trauen, ihre Religion zu erkennen zu geben, ihre Kinder nicht mehr zur Schule schicken oder selbst Angehörige verloren haben.
Stattdessen folgte der, wenn überhaupt, pflichtschuldigen Verurteilung noch im gleichen Atemzug das Aber, als würde vor dem Aber, wenn schon kein Punkt, nicht wenigstens ein Komma stehen.
Ich bin auch für das Aber; das Denken konstituiert sich nicht in Thesen, sondern in Widersprüchen, ja.
Aber – aber! – es gibt doch im Leben immer wieder einen Augenblick, eine Minute, einen Tag oder eine Woche, wo man eine Pause setzt, bevor man mit seinem Aber fortfährt. Wo man dem Gegenüber nicht als Gegner, sondern als Mensch in die Augen sieht, der um seine Nächsten weint. Wo man sich schämt, wenn in Deutschland an die Häuser von Juden ein Davidstern gesprüht wird. Ich habe darauf geachtet, ich habe hingehört im linken Diskurs: Wie schon nach Butscha, als deutsche Intellektuelle sich in offenen Briefen bar jeder Empathie zeigten, war vor dem Aber kaum irgendwo eine Pause, nicht mal eine Schrecksekunde, kein Schweigen, weil Worte versagten.
Die elementarste menschliche Regung, wenn Frauen vergewaltigt, auf einen Schlag über 1400 Menschen ermordet werden, hat gefehlt. Deshalb klingt die Israel-Kritik seit dem 7. Oktober so falsch, selbst wo sie richtig ist. Beinah die einzigen Stimmen, die in den vergangenen vier Wochen überzeugend Kritik an Israel übten, waren jüdische. Sie wenigstens scheinen von der deutschen Neurose frei, Israel entweder zu hassen oder seine Regierung bis zur Selbstverleugnung zu rechtfertigen.